Road to Glasgow
Nächste Woche beginnen in Glasgow die Super-Weltmeisterschaften. Erstmals in der Geschichte des Radsports werden – bis auf Querfeldein – alle Weltmeistertitel an einem Ort vergeben. Der BDR hat in vielen Disziplinen große Medaillenchancen, ganz besonders im Hallenradsport. Im Einer-Kunstfahren ist der amtierende Weltmeister Lukas Kohl der ganz große Favorit. Kohl hat gerade seinen Deutschen Meistertitel erfolgreich verteidigt.
Im Leben des studierten Wirtschaftsingenieurs dreht sich alles um das Kunstfahren. Seit Jahren beherrscht Kohl die Weltspitze, sechs WM-Titel hat er in Folge geholt, er ist amtierender Europameister, Deutscher Meister, Weltcupsieger, Weltrekordhalter. Und es ist schier unglaublich, dass er stets hochmotiviert am Start steht, nicht nur bei den großen Events, auch bei kleineren Pflichtveranstaltungen wie einer Bezirksmeisterschaft. Kohl könnte die kleineren Events auslassen, doch das käme dem Nordbayern nie in den Sinn. Sein Pflichtbewusstsein ist enorm, seine Selbstdisziplin beispielhaft.
Jeden Morgen geht er kurz nach 7 Uhr aus dem Haus, arbeitet acht Stunden, fährt dann in die Halle und traininiert. Montags, mittwochs und freitags wird die Technik studiert, an den Tricks gearbeitet, dienstags und donnerstags steht Ausdauertraining auf dem Programm. Danach geht es nach Hause, duschen, essen, ein wenig entspannen, schlafen. Und am Wochenende startet Lukas Kohl bei Wettkämpfen. Dieses Pensum zieht er seit zwei Jahren durch, seitdem er im Januar 2021 seine Arbeitsstelle als Controller begonnen hat. Vorher, verrät er, im Studium, da hatte er mehr Freizeit, ging ab und zu auch mal in die Ninja-Warrior-Halle in Erlangen. Die gibt es aber inzwischen nicht mehr und außerdem, sagt Kohl: „Heute habe ich keine Zeit mehr für Ineffizienzen“.
Ein wenig neidisch blickt Lukas Kohl auf seine Kollegen von der Straße, auf die „echten“ Profis. Die bekommen Geld fürs Radfahren, trainieren einige Stunden und haben dann frei. Kohl nicht. Obwohl seine Radsport-Disziplin sehr viel Zeit und Energie kostet, und er sie auf hochprofessioneller Ebene betreibt, ist er eigentlich „Amateur“. Denn Kunstradfahren ist eine Randsportart, nicht viel beachtet in den Medien. Die Sponsoreneinnahmen reichen gerade einmal, um die laufenden Kosten zu decken. Die Anreisekosten – außer zu Welt-und Europameisterschaften – müssen die Athletinnen und Athleten selbst tragen.
Lukas Kohl ist ein absoluter Kopfmensch, einer der zielstrebig vorangeht. Wäre das nicht so, wäre er nie so weit gekommen. „Ich muss 16 Stunden hoch konzentriert sein am Tag,“ sagt er. Auf der Arbeit muss es reibungslos funktionieren, im Training auch. „Wenn ich da nicht zu 100 Prozent bei der Sache bin, ist die Sturzgefahr groß,“ weiß der amtierende Weltmeister. Da beneidet er auch ein wenig die Läufer oder Mountainbiker, die einfach die Turnschuhe anziehen, oder sich aufs Bike schwingen und sich auspowern. Das geht im Kunstfahren nicht.
Warum er seit Jahren der Beste ist, begründet Lukas Kohl auch mit seinem späten Einstieg in die Szene. „Ich war mit acht Jahren ein Spätstarter, normalerweise beginnt man mit sechs. Also musste ich einiges aufholen, weil die Gleichaltrigen natürlich erstmal besser waren,“ erinnert er sich an seine Anfänge. „Sie zu schlagen, das war für mich ein Motivationsschub.“
Lukas Kohl brennt für seine Leidenschaft, das Kunstfahren. Eigentlich kommt es nie vor, dass er keine Lust zum Training hat. „Ich bin ein sehr pflichtbewusster Mensch“, sagt er über sich. Lediglich nach den Weltmeisterschaften gönnt er sich eine kleine Pause, fährt auch mal in Urlaub. Dann hat er etwas mehr Zeit für Freundin Sabrina, die wie er aus der Kunstradsportszene kommt und als Kampfrichterin oft bei Wettkämpfen dabei ist. Sonst würde die Partnerschaft nicht funktionieren. Jemand, der nicht mal eine Stunde im Eiscafé sitzen mag, weil diese Zeit zu ineffektiv ist, den muss man verstehen. „Wenn ich nicht aktiv sein kann, werde ich ungenießbar,“ weiß Kohl.
Seine Gegner hat er seit Jahren im Griff. „Eigentlich fahre ich nur gegen mich selbst“, sagt er selbstbewusst. Ein Einzelgänger ist er deswegen nicht. Mit Marcel Jüngling, dem letztjährigen WM-Zweiten, ist er gut befreundet. Beide trainieren auch gemeinsam, und Jüngling kommt immer näher an die Leistungen von Kohl heran. Das macht dem sechsfachen Weltmeister keine Sorgen, im Gegenteil. Es puscht ihn. „Die ersten Vier der letzten WM, liegen gerade einmal fünf Punkte auseinander. Das Niveau ist verdammt hoch“, sagt der Champion, der mit 216,40 auch den Weltrekord im Einer-Kunstfahren hält. „Ich bin aber am Ende des Reglements angekommen.“ Das bewegt sich bei Kohl um 212 Punkte. Er könnte eine höhere Punktzahl einreichen, die Tricks hat er drauf, aber das Risiko ist zu groß, bei einem Fehler einen dicken Punktabzug zu kassieren und dann zurückzufallen.
Die Leistungen im Kunstfahren sind sehr hoch. Eine Kür dauert fünf Minuten. Darin eingepackt sind 30 Tricks, die man möglichst fehlerfrei vorführen muss. Zum Vergleich: Zu Zeiten von Bundestrainer Dieter Maute dauerte eine Kür sechs Minuten mit 28 Tricks. Jeder Sportler reicht seine Punkte ein, steht er das Programm gut, gibt es volle Punktzahl, macht er Fehler, sinken sie. Zeit, Fehler zu korrigieren oder eine Übung zu wiederholen, hat man nicht. Von den 30 Tricks sei der Drehsprung der schwierigste, verrät Kohl. Den springt er natürlich zehnfach!
Lukas Kohl gibt sein Können auch gern an andere weiter: Mit der Nationaltrainerin von Macao, die er bei einer WM kennenlernte, steht er in Kontakt. 2019 waren zwei Sportler aus Macao bei Kohl zu Hause in Bayern und haben mit ihm gemeinsam trainiert. Während der Corona-Krise hat man Kohl regelmäßig Videos zugeschickt, die er angesehen und die Darbietungen korrigiert hat. Im Frühsommer kam ein weiterer Kunstfahrer des Inselstaates nach Bayern, und Lukas Kohl bereitete ihn auf die WM vor. Dem erfolgreichen deutschen Kunstfahrer ist es wichtig, dass der Hallenradsport in der Welt breiter aufgestellt wird, und so mehr Anerkennung erfährt.
Viel verspricht sich der 27-Jährige auch von den Weltmeisterschaften in Glasgow. Erstmals treffen die Kunstfahrer mit Radsportlern anderer Disziplinen aufeinander. „Das wird eine tolle Sache“, hofft Kohl auch auf eine größere Resonanz in der Öffentlichkeit. Wer die Gelegenheit hat, sollte es sich nicht entgehen lassen, wenn der „Lukinator“, so nennen sie ihn in der Szene, in Glasgow seinen siebten WM-Titel ansteuert.
Bilder (c) Wilfried Schwarz